
Not sehen und handeln
„Was soll ich dir tun?“, so fragt Jesus einmal einen Blinden, der an der Straße sitzt und nach ihm ruft. So könnte es auch damals vor den Toren von Amiens gewesen sein. Martin sieht den frierenden Bettler am Straßenrand und fragt: „Was soll ich dir tun?“ Wie im Beispiel Jesu der Blinde antwortet, dass er sehen möchte, so dürfte der Frierende geantwortet haben, dass er Wärme sucht, vielleicht ein Dach über dem Kopf.
„Not sehen und handeln!“ So könnte das Lebensmotto Martins geheißen haben. Er hat das Evangelium nicht nur gehört, er hat es verstanden und umgesetzt. Darin wird er uns zum Vorbild. In der Nachfolge Jesu hat er handfeste Solidarität praktiziert mit den Habenichtsen, den kleinen Leuten, den Kranken und Bedürftigen seiner Zeit. Heute würde er mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten für
- die, die keine eigene Meinung haben dürfen,
- die, die allein und einsam sind, ohne mitmenschliche Beziehungen,
- die unter der Pandemie Leidenden
- die misshandelten Kinder – die Drogenabhängigen – die Behinderten,
- die seelisch und körperlich Kranken,
- die Kinder und Jugendlichen ohne Halt,
- die Menschen in Frauenhäusern, Gefängnissen, Notschlafstellen,
- die arbeitslosen Frauen, Männer, Jugendlichen,
- die, die einfach da sind und um ein wenig Verständnis bitten.
Nach dem Vorbild des heiligen Martin gilt auch für uns alle, was der Herr im Evangelium den fragenden Jüngern antwortet: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder – und ich ergänze Schwestern – getan habt, das habt ihr mir getan.“ In dieser so anderen auch bedrängenden Zeit bieten sich Beispiele genug, um das konkret umzusetzen, was Martin uns vorgelebt hat. Da ist wenige Tage nach dem Martinsfest mit dem Welttag der Armen am 15. November die Botschaft des Papstes zu diesem Tag die konkrete Antwort auf die Botschaft des heiligen Martin.
Der Papst schreibt: „»Streck dem Armen deine Hand entgegen« (vgl. Sir 7,32). Die altehrwürdige Weisheit hat diese Worte gleichsam als einen heiligen Verhaltenskodex für das Leben aufgestellt. Sie erklingen heute mit ihrer ganzen Bedeutungsschwere, um auch uns zu helfen, den Blick auf das Wesentliche zu konzentrieren und die Schranken der Gleichgültigkeit zu überwinden. Die Armut tritt immer in verschiedenen Formen auf, die für jede besondere Situation Aufmerksamkeit verlangen: In jeder von ihnen können wir dem Herrn Jesus begegnen, der offenbart hat, in seinen geringsten Brüdern anwesend zu sein (vgl. Mt 25,40). … Den Blick auf den Armen gerichtet zu halten ist schwierig, aber notwendiger denn je, um unserem persönlichen und sozialen Leben die rechte Richtung zu verleihen. Es geht nicht darum, viele Worten zu machen, sondern vielmehr, von der göttlichen Liebe angetrieben, sein Leben konkret einzubringen. Jedes Jahr komme ich mit dem Welttag der Armen auf diese für das Leben der Kirche grundlegende Wirklichkeit zurück, da die Armen immer bei uns sind und sein werden (vgl. Joh 12,8), um uns zu helfen, die Gegenwart Christi im täglichen Leben zu erfassen“.
Bernhard Auel