
Tageslesungen
Hos 6, 1-6 | Lk 18, 9-14
Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stellte sich hin und sprach bei sich dieses Gebet: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort. 1Ich faste zweimal in der Woche und gebe den zehnten Teil meines ganzen Einkommens. Der Zöllner aber blieb ganz hinten stehen und wollte nicht einmal seine Augen zum Himmel erheben, sondern schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig! (Lk 18, 10-13)
Der Pharisäer betet zu Gott, aber in Wirklichkeit blickt er auf sich selbst. Er betet zu sich selbst! Anstelle des Herrn hat er einen Spiegel vor Augen. [..] Er bleibt stehen, er fühlt sich sicher, so als sei er der Herr des Tempels! Er zählt die guten Werke auf, die er getan hat; [..] Mehr als zu beten gefällt sich der Pharisäer also in seiner eigenen Gesetzestreue. Seine Haltung und seine Worte sind jedoch fern vom Handeln und Sprechen Gottes, der alle Menschen liebt und die Sünder nicht verachtet. [..]
Der Pharisäer ist zum Tempel gegangen, er ist sich seiner sicher, aber er merkt nicht, dass er sich auf dem Weg seines Herzens verirrt hat.
Der Zöllner dagegen – der andere – geht mit demütigem und reumütigem Herzen in den Tempel: [..] Sein Gebet ist sehr kurz, es ist nicht so lang wie das des Pharisäers: »Gott, sei mir Sünder gnädig!« Sonst nichts. Ein schönes Gebet.
Papst Franziskus
Ich schaue auf mein Gebet – wem gleiche ich? Stehe ich vor Gott oder vor einem Spiegel, in dem ich mich selbst und meine „großen Taten“ sehe?
Kann ich demütig, mich als Sünder bekennen, der angewiesen ist auf das Erbarmen Gottes?
Im Gebet fühlt sich der Mensch oft wie ein schwarzes Schaf, weil er voller Mängel und Fehler steckt. Aber Gott ist keine Krämerseele, die jeden Minuspunkt aufnotiert. Er lässt dich nicht fallen, sondern gibt dir immer und immer wieder die Chance, zu ihm zurückzukehren. Niemand muss Angst haben, dass er wegen seiner Fehler und Unzulänglichkeiten ausgegrenzt wird — auch wenn er über Jahrzehnte ein Leben ohne Gott und ohne Glauben geführt hat.
Aus: Karl Kardinal Lehmann, Frei vor Gott. Glauben in öffentlicher Verantwortung. Herder Verlag, Freiburg Basel Wien 2003.
(c) Wilfried Schumacher