Predigt am 10.Juli 2022 in Altenahr
Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas
Da trat ein Schriftgelehrter zu ihm, ein Mann, der gekommen war, um ihm eine Falle zu stellen: „Du bist ein Lehrer“, sagte er. „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ „Du kannst doch lesen“, sagte Jesus. „Was steht im Gesetz?“
„Lieben wirst Du den Herrn, Deinen Gott“, antwortete der Schriftausleger, „mit Deinem Herzen, Deiner Seele und Deinen Gedanken, mit all Deiner Kraft! Lieben wirst Du jeden, der ein Mensch ist wie Du. Du wirst ihn lieben, wie Du Dich selbst liebst.“
„Die richtige Antwort!“ sagte Jesus. „Du wirst leben, wenn Du so handelst.“ Der Schriftausleger aber wollte sich rechtfertigen: „Wer ist das: mein Bruder? Und was bedeutet: Ein Mensch wie ich?“
„Es gab einen Mann“, antwortete Jesus, „der von Jerusalem nach Jericho ging und, zwischen dem Gebirge und der Ebene, den Räubern in die Hände fiel. Die warfen ihn nieder, zogen ihn aus, schlugen ihn halb tot und ließen ihn liegen:
So fand ihn ein Priester, der zufällig den gleichen Weg ging wie er. Der sah den Mann – und ging weiter. Später kam ein Levit an die Stelle; auch er sah den Mann – und auch er ging weiter.
Schließlich kam auch ein Samariter vorbei, ein Ungläubiger, und als der den Mann sah, hatte er Mitleid mit ihm trat auf ihn zu, wusch ihm seine Wunden mit Öl und Wein aus, verband sie, ob den man auf ein Lasttier und brachte ihn zu einer Herberge.
Dort versorgte er ihn und blieb bei ihm bis zum anderen Tag. Dann aber hat er dem Wirt zwei Silberstücke gegeben: ‚Das ist für die Pflege‘, sagte er, ‚wenn Du mehr brauchst, will ich Dir‘s bezahlen. Ich komme zurück.‘
Was meinst Du, fragte Jesus, wer von den dreien stand dem Überfallenen bei? Wer ist ihm ein Bruder gewesen?“ Da sagte der Schriftausleger „der Barmherzige ist es gewesen“, und Jesus antwortete ihm: „Tu, was der Samariter getan hat. Geh – und sei wie er!“
Übertragung von Walter Jens Lk 10, 25-37

Wir sind es gewohnt, die Evangelien als „biblische Geschichte“ zu lesen. Als schöne Erzählungen von damals. Aber diese Texte haben auch etwas mit uns zu tun. Betreffen uns. Nicht nur als moralische Aufforderung. Sondern vor allem als frohe Botschaft.
Deshalb lade ich Sie ein, dass wir noch einmal auf den Text schauen.
Eins vorweg gesagt: Hebammen wissen es: Mütter, deren Kind zur Adoption freigegeben wurde, dürfen das Neugeborene nicht sehen! Denn der Blick löst stärkere Muttergefühle aus, als der 9monatige Körperkontakt.
Der Blick eines Menschen ist mehr als die Abbildung des Lichtes auf der Netzhaut. Das Auge ist mehr als eine Kamera. Der Blick eines Menschen kann den Menschen verwandeln, ihm eine Welt eröffnen, die er bisher nicht wahrgenommen hat:
Denken Sie an die vielen Beispiele, wo Menschen einander kennen und lieben gelernt haben. Vielleicht gibt es unter Ihnen auch Menschen, die sich auf den ersten Blick verliebt haben.
Vom Blick ist auch im heutigen Evangelium die Rede. Zwischen Jerusalem und Jericho ist ein Mann unter die Räuber gefallen. Halbtot lassen sie ihn in der Wüste liegen.
Ein Priester und ein Levit kommen des Weges, von beiden heißt: „er sah ihn und ging weiter!“
Sie nehmen den Anspruch, der sie im Blick trifft nicht wahr! Sie schauen wie eine Kamera.
Ein dritter kommt des Weges: ein Samariter, ein Ausländer, einer von denen, mit denen die Juden in offener Feindschaft lebten. Von ihm heißt es: er sah ihn und hatte Mitleid – besser noch: er hatte Erbarmen.
Das Wort „Erbarmen“ hat im hebräischen die gleiche Wurzel wie das Wort “Mutterschoß“.
Erbarmen haben bedeutet also nicht: von oben herab ein Almosen geben.
Erbarmen bedeutet: zugewandt, zugeneigt sein wie die Mutter auf das Kind bezogen ist.
Erbarmen haben – heißt: unsere Existenzen werden miteinander verknüpft.
Da ist es nur konsequent, was dann beschrieben wird: er ging zu ihm hin.
Der Samariter handelte, er tat, was für den Augenblick notwendig war.
Der Blick hatte ihn verwandelt: aus dem Feind wurde der Nächste. Die Reise wird unterbrochen.
Und er tut mehr als man erwarten kann: er verbindet nicht nur seine Wunden, er bringt ihn zur nächsten Herberge.
Aber nicht nur das: er bezahlt auch noch seine Unterkunft.
Aber nicht nur das: wenn noch mehr benötigt wird, wird er es auch bezahlen.
Und jetzt kommen viele von Ihnen ins Spiel, in die Geschichte. Sie haben es im vergangenen Jahr erlebt: da waren nach der furchtbaren Flutnacht plötzlich viele, die mit Ihnen Erbarmen hatten, die ihre Existenz mit Ihrer verknüpft haben.
Sie waren nicht unter die Räuber gefallen, aber Opfer einer Naturkatastrophe. Der Anblick der gefluteten Orte und der zerstörten Häuser und der Menschen in diesem Chaos hatte diese Helferinnen und Helfer herausgefordert.
Und Sie werden es mir bestätigen: diese Menschen haben oft mehr getan als man von ihnen hätte erwarten können – wie der Samariter in unserer Geschichte.
Die kommenden Tage, besonders der Jahrestag der Flutnacht, werden für Sie harte Tage werden. Ich möchte für Sie beten, dass Sie in aller Trauer und schmerzvoller Erinnerung sich auch der Menschen erinnern, die Sie in den Blick genommen haben: die gesehen und geholfen haben.
Es ist die alte Geschichte von dem Mann, der zwischen Jerusalem und Jericho am Boden lag, neu erlebt hier im Ahrtal.