
Tageslesungen
Dtn 30,9c-14 | Kol 1,15-20 | Lk 10,25-37
Und wer ist mein Nächster? (Lk 10,29b)
Geburtshelfer wissen es: Mütter, deren Kind zur Adoption direkt nach der Geburt freigegeben wurde, dürfen das Neugeborene nicht sehen! Denn der Blick löst stärkere Muttergefühle aus, als der 9monatige Körperkontakt.
Im „kaukasischen Kreidekreis“ erzählt Bert Brecht von der Magd Grusche, der das Kind der Gouverneurin zugeschoben wird, die geflohen ist. „Es schaut einen an wie ein Mensch“, sagt sie und andere warnen sie: „Dann schau du’s nicht an“. Schließlich kann sie es doch nicht lassen. Der Sänger, der im Stück als Kommentator auftritt, stellt fest: Lange saß sie bei dem Kinde bis der Abend kam, bis die Nacht kam. Bis die Frühdämmerung kam. Zu lange saß sie! Zu lang sah sie.“
Sie nimmt das Kind an und sorgt für das Kind.
Der Blick eines Menschen ist mehr als die Abbildung des Lichtes auf der Netzhaut. Das Auge ist mehr als eine Kamera.
Der Blick eines Menschen kann den Menschen verwandeln, ihm eine Welt eröffnen, die er bisher nicht wahrgenommen hat: Denken Sie an die Magd Grusche oder an die vielen Beispiele, wo Menschen einander kennen und lieben gelernt haben.
Vom Blick ist auch im heutigen Evangelium die Rede. Zwischen Jerusalem und Jericho ist ein Mann unter die Räuber gefallen. Halbtot lassen sie ihn in der Wüste liegen.
Ein Priester und ein Levit kommen des Weges, von beiden heißt: „er sah ihn und ging weiter! (besser noch: ging auf die andere Straßenseite)“
Sie nehmen den Anspruch, der sie im Blick trifft nicht wahr! Sie schauen wie eine Kamera.
Ein dritter kommt des Weges: ein Samariter, ein Ausländer, einer von denen, mit denen die Juden in offener Feindschaft lebten. Von ihm heißt es: er sah ihn und hatte Mitleid – besser noch: er hatte Erbarmen.
Das Wort „Erbarmen“ hat im hebräischen die gleiche Wurzel wie das Wort“Mutterschoß“.
Erbarmen haben bedeutet also nicht: von oben herab ein Almosen geben.
Erbarmen bedeutet: zugewandt, zugeneigt sein wie die Mutter auf das Kind bezogen ist.
Erbarmen haben – heißt: unsere Existenzen werden miteinander verknüpft.
Da ist es nur konsequent, was dann beschrieben wird: er ging zu ihm hin.
Der Samariter handelte, er tat, was für den Augenblick notwendig war. Der Blick hatte ihn verwandelt: aus dem Feind wurde der Nächste. Die Reise wird unterbrochen. Im Blick lag der Anruf, den er wahrnimmt. – er ermöglicht das Leben.
Das Wort Jesu an den Gesetzeslehrer Geh hin handele genau so! ist auch das Wort Jesu an uns.
Es gibt viele Menschen an unserem Weg, viel zu viele.
Nicht alle brauchen mich, können mich gebrauchen – und: ich kann nicht allen helfen.
Das Evangelium lädt uns ein:
mit offenen Augen durch die Welt zu gehen,
die Menschen wirklich in den Blick zu nehmen,
den Anruf zu hören, der uns auf diesem Weg erreicht,
vor allem aber, dass wir Erbarmen haben,
dass ich meine Existenz mit der Existenz des anderen verknüpfe – weil sein Anblick mich verwandelt hat.
(c) Wilfried Schumacher

Schauen Sie doch einmal auf meinen Reiseblog: https://miteinanderreisen.blog/ und erfahren Sie mehr über Reisen, die ich begleite bei den „Freunden christlichen Reisens“. Tragen Sie sich ein in den Newsletter und gehören Sie zu den ersten, die informiert werden.