Wenn Töchter „Söhne“ sind

Denn alle seid ihr durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus. Wenn ihr aber Christus gehört, dann seid ihr Abrahams Nachkommen, Erben gemäß der Verheißung. (Gal 3,26-20)

„Kleider machen Leute“, lautet ein Sprichwort. Es ist zugleich der Titel einer berühmten Novelle von Gottfried Keller. Die Hauptperson in der Geschichte ist ein arbeitsloser Schneidergeselle, der unterwegs per Zufall von einer feudalen Kutsche mitgenommen wird. Sein kostbarster Besitz ist der selbstgeschneiderte feine Mantel, den er trägt.
Als die Kutsche bei einem Dorfgasthof Pause macht, hält man den gut gekleideten jungen Mann in der feudalen Kutsche für einen Grafen und bewirtet ihn fürstlich. Er beteuert zwar immer wieder: „Ich bin kein Graf“, aber der Wirt und die Dorfbewohner halten an ihrer Meinung fest, denn sie sind durch die vornehme Kleidung zu stark be­eindruckt. Da bewahrheitet sich der Titel der Geschichte „Kleider machen Leute“.

Im 3.Kapitel des Galaterbriefs ist auch von einem Kleid die Rede, das allerdings im Gegensatz zu der Geschichte die Wahrheit über den Träger, die Trägerin sagt: Ihr alle seid durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.

Der Text stammt wohl ursprünglich aus der Taufliturgie und bezieht sich dort auf das Taufkleid, das die Neugetauften anzogen. Er lohnt die nähere Betrachtung. Schon der erste Satz ruft in unserer gendergewohnten Gesellschaft Widerspruch hervor: wir sollen Söhne sein, wo die Hälfte der Menschheit Frauen sind. Müßte es da nicht „Söhne und Töchter“ heißen. NEIN, denn dieser Satz enthält schon Revolutionäres: „Ihr alle“ sagt Paulus und meint damit Männer und Frauen! Ihr alle seid „Söhne“, denn Ihr alle werdet erben.

Man muss wissen: im damaligen Recht erbten Töchter entweder gar nicht oder sehr viel weniger als Söhne. Diese Unterscheidung, so Paulus, gilt im Blick auf das, was Christinnen und Christen erhoffen, nicht. Im Glauben sind alle gleichermaßen „Vollerben“, unabhängig von Geschlecht, Nation oder sozialem Status. „Sohn“ ist also im Sinne des „Vollerben“ zu verstehen. (Vielleicht wäre es trotzdem aus heutiger Sicht besser zu „übersetzen“: Ihr alle seid durch den Glauben Erbinnen und Erben Gottes – denn nicht alle verstehen diesen zeitgeschichtlichen Kontext))

In dieser Gemeinschaft der „Söhne Gottes“ gibt es keine Unterschiede: weder die nach der Religion „nicht mehr Juden und Griechen“, weder die nach sozialem Status „nicht mehr Sklaven und Freie, noch nach dem Geschlecht nicht männlich und weiblich.

Der Text ist fast 2000 Jahre alt und doch hat man ihn anscheinend kaum ernstgenommen:
Juden und Griechen, das meint Juden und Heiden, im damaligen Verständnis Christen, die vorher Juden waren und solche, die sich als Heiden taufen ließen. Nach wie vor interessiert die Menschen die Gretchenfrage aus Goethes Faust „Sag, wie hältst du es mit der Religion“. Da werden Menschen ausgegrenzt, verfolgt oder gar getötet – wegen ihrer Religion und Konfession.

Sklaven und Freie – die Sklaverei wurde erst 1948 international verpflichtend abgeschafft. Doch noch immer gibt es Sklaven: Menschen, oft Kinder, die für Hungerlöhne in Afrika, Lateinamerika und Asien arbeiten müssen, um unseren Wohlstand zu sichern. Und auch bei uns gibt es Menschen, deren prekäre Existenz sie nicht frei leben lässt, gefangen von finanzieller Not und abhängig von staatlichen Zuwendungen.

Männlich und weiblich – die Gleichberechtigung von Mann und Frau wurde erst 1957 ins bürgerliche Recht der Bundesrepublik übernommen. Und immer noch sind Männer und Frauen in unserem Land nicht gleichgestellt; zum Beispiel beim Lohn. Frauen verdienen durchschnittlich 21 Prozent weniger als Männer. Ganz zu schweigen von der Geschlechter-Ungerechtigkeit in der Kirche.

Paulus sagt: Ihr alle, die ihr da nach verschiedenen Kriterien unterschiedlich kategorisiert werdet – ihr alle seid eins in Christus Jesus. D.h. überwindet die Grenzen, das Niederdrückende, das Ausgrenzende, das Trennende.

Was bedeutet das für uns?
Sind wir uns dieser Würde, die sich aus unserer Taufe ergibt überhaupt bewusst?

Erkennen wir darin auch eine Verpflichtung zum Handeln?

Wenn es um das Zusammenleben der Religionen und Konfessionen geht; wenn es heißt, gegen Rassismus und Antisemitismus einzutreten und ggf. aufzustehen? Wie reden wir übereinander?

Wenn es darum geht, dass Menschen einen gerechten Lohn erhalten, dass ich nicht durch mein Kaufverhalten die Ungerechtigkeit in anderen Ländern unterstütze.

Wenn ich wachsam bin, wenn Männer und Frauen diskriminiert werden oder gar Gewalt angetan wird. Wenn ich akzeptiere, dass Menschen ihre geschlechtliche Identität auf unterschiedliche Weise leben.

Die Beispiele ließen sich fortsetzen – sie sollen uns zeigen, welche Bedeutung der alte Text aus dem Galaterbrief für unser ganz persönliches Leben als Christ, als Christin hat. Dass wir uns durch unser Leben, unser Reden und Handeln würdig erweisen, Erbe und Erbin der Verheißung zu sein.